Call for Papers für Tsveyfl #3   Anarchismus und Autonomie

 

 

Anarchistische Bezüge auf den Begriff der Autonomie sind vielfältig. Autonomie gilt sowohl als Ursprung als auch als Ziel der Möglichkeit emanzipatorischen Handelns. Dabei ist er, wie viele zentrale Begriffe des Anarchismus, gleichzeitig über- und unterbestimmt.

In der nächsten Ausgabe von Tsveyfl – dissensorientierte Zeitschrift wollen wir uns daran machen, einen schärferen Autonomiebegriff sowie dessen Verhältnis zum Anarchismus zu entwickeln.

Im Folgenden sei skizziert, welche Dimensionen von Autonomie wir dabei als besonders geeignet sehen, um sich diesem Vorhaben zu nähern.

Ein anarchistischer Autonomiebegriff muss sich vom bürgerlichen  qualitativ unterscheiden, denn ein anarchistischer Autonomiebegriff sollte nicht nur die Widersprüche der bürgerlichen Subjektkonstitution bis zum Verlust von Gesellschaftlichkeit radikalisieren. Das ist das Programm des Individualanarchismus und des Insurrektionalismus, gegen welche der marxistische Vorwurf der „kleinbürgerlichen Ideologie“ tatsächlich berechtigt ist. Ein anarchistischer Autonomiebegriff, der diesen Namen verdient, muss eine andere Autonomievorstellung als die bürgerliche denkbar machen.

 

Das Versprechen autonomes Subjekt zu sein, das die kapitalistische Gesellschaft den von ihr hervorgebrachten Subjekten anzubieten hat, ist geknüpft an Bedingungen, über die die Einzelne gerade nicht autonom verfügt. Geschlecht, Klasse, Sexualität oder Hautfarbe werden immer wieder zum Grund, in die Autonomie der Individuen einzugreifen oder ihnen den Subjektstatus vorzuenthalten bzw. abzusprechen. Das Ringen um die Autonomie des Subjekts hat also den Kampf überhaupt als Subjekt anerkannt zu werden zur Voraussetzung.

Dabei sind bereits die Prozesse, in denen sich Individuen als Subjekte erzeugen, zwiespältig: Der Aufschub unmittelbarer Triebbefriedigung zugunsten langfristiger Ziele, die Wahl der passenden Mittel aus den gesellschaftlich akzeptiert zur Verfügung stehenden oder auch nur die unmittelbare Affektkontrolle – all das erfordert Disziplin, deren Honorierung zu allem Überfluss letztlich ungewiss ist. Dazu kommt, dass sich die Individuen seit einiger Zeit einem historisch beispiellosen Netz technologischer Angriffe auf eben diese Prozesse der Selbsterzeugung als Subjekt ausgesetzt sehen.  Aus der allgemeinen Verbreitung digitaler Kommunikationstechnologien folgen vor allem die allgegenwärtigen behavioristischen Zugriffe auf die Individuen.

Fast alle kommerziellen, an Endkunden gerichteten Digitaltechnologien werden heute nach Erkenntnissen der Verhaltensforschung designt.  Das reicht von der Gestaltung der Interfaces, die darauf ausgelegt sind der Nutzerin bestimmte Reiz-Reaktionsschleifen anzutrainieren, bis zur bevorzugten Verbreitung von Inhalten, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen und so für gesteigerte Interaktion sorgen. Dies passiert vor dem Hintergrund einer umfassenden Überwachung zum Zweck der Verhaltensvorhersage und Steuerung, die längst zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor geworden ist.  Die emanzipatorische Linke hat es bisher weitestgehend versäumt, diese radikale Änderung der Bedingungen von Freiheit zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu kritisieren. Ein anarchistischer Autonomiebegriff, der auf der Höhe der Zeit ist, muss es nicht zuletzt ermöglichen gegen dieses neue Paradigma der Herrschaft in Widerspruch zu treten.

 

Ein anarchistischer Autonomiebegriff muss also vermitteln zwischen dem, was ist, dem, was unter diesen Bedingungen möglich ist, und dem, was erst noch werden soll.

 

Die Entwicklung eines anarchistischen Autonomiebegriffs kann nicht gänzlich die Frage ignorieren, die den meisten Anarchistinnen akut unter den Nägeln brennt: Die Frage der praktischen Autonomie im Verhältnis zum Staat. Anarchistinnen versuchen allerorten Projekte zu realisieren, die irgendwie unabhängig von Staat und kapitalistischer Gesellschaft sein sollen. Die Mitarbeit in solchen Projekten fühlt sich häufig unmittelbar befreiend an, da hier Anerkennung als autonomes Subjekt durch das Kollektiv erfahrbar wird, die vielen Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft vorenthalten bleibt. In ihrer tatsächlichen Konstitution ähneln solche Projekte aber häufig Slums, da die notwendige Infrastruktur unter staatlicher Kontrolle steht. So bleibt dann entweder die Möglichkeit, ohne fließendes Wasser in Holzhütten zu hausen, oder eben doch zu versuchen, im staatlich abgesteckten Rahmen – zum Beispiel in Kollektivbetrieben – Arbeitsprozesse anders zu organisieren. Den utopischen Horizont bilden in beiden Fällen verschiedene Fiktionen von Autonomie, die sich Lücken staatlicher Verwaltung als Spielwiese wählen. 

 

Überhaupt autonomes Subjekt werden zu können hat unmittelbar materielle Voraussetzungen, die sich aus der Körperlichkeit der Menschen ergeben.  Der bürgerliche Autonomiebegriff unterschlägt die materiellen Voraussetzungen von Autonomie, und erklärt diese zur Privatsache. In dieser Materialität könnte ein entscheidender Unterschied zwischen bürgerlichem und anarchistischen Autonomiebegriff liegen. Bewegungen und Theorien, an denen sich Anarchistinnen ein Vorbild nehmen können, versuchen eben diese materiellen (ökonomischen wie körperlichen) Voraussetzungen von Autonomie zu erringen bzw. das entsprechende bürgerliche Verständnis zu kritisieren. Zu nennen sind hier auf der einen Seite insbesondere die mexikanischen Zapatistas. Unter Mitteleuropäerinnen gibt es eine Tendenz zur Fetischisierung von Elend und dessen Reinszenierung als Farce. Dieser Reinszenierung ist kritisch zu begegnen. Auf der anderen Seite könnte die lange Tradition feministischer Kritik in den Blick genommen werden, die den bürgerlichen Begriff des autonomen Subjekts mit seinen materiellen Voraussetzungen als patriarchalen Illusion überführt hat.

 

Wir möchten ausdrücklich dazu einladen, auch Artikelvorschläge einzureichen, die anderen Ansätzen folgen. Im Sinne der Dissensorientierung veröffentlichen wir nicht nur Artikel, die eng an der redaktionsinternen Debatte orientiert sind.

Selbstverständlich behalten wir uns dabei vor, die Abgrenzung zu uns kenntlich zu machen. Das sollte aber keine abschrecken – Fortschritt entsteht nur durch Widerspruch. 

 

Wir freuen uns auf die Einsendungen.

 

Abstracts (max. 1 Seite) werden bitte bis zum 31.05.2019 an tsveyfl@gmail.com geschickt. Namen und Kontaktmöglichkeit aller Autorinnen sowie Eckdaten zu diesen sind beizufügen.