Call for Papers zur vorliegenden Ausgabe - November 2017


Wir leben in moralisierten Zeiten. Das reaktionäre Aufbegehren schwemmt eine Partei in die Parlamente, für die die heterosexuelle Kernfamilie und deutsche Primärtugenden wie Pünktlichkeit und Fleiß metaphysisch überhöhte Fixpunkte gesellschaftspolitischen Handelns bilden. Hippe Jungrechte machen sich daran, die moralische Verkommenheit der 68er zu beheben, weil das Abendland mal wieder untergeht. Zugleich maßregeln Nachwuchs-Paschas ihre Mitschülerinnen, wenn deren Kleidung vermeintlich haram ist. Wo die Linke diese Ideologien einer analytischen Kritik unterziehen sollte, verhält sie sich allzu oft als moralisches Gegenprojekt. Insbesondere poststrukturalistisch geprägte Strömungen der Linken stellen dem falschen Moralismus der verschiedenen Rechten keine Kritik entgegen, sondern vielmehr die "richtige" Moral. Es lässt sich also sagen, dass dem klassischen Moralismus der verschiedenen Rechten heute ein linker Neomoralismus entgegensteht, der seine Entwicklung vor allem im Internet erlebt hat. Mit den rechten Moralismen teilt er sich einen gemeinsamen sozialhistorischen Hintergrund: Unter dem Schlachtruf "There is no such thing as society." (Margaret Thatcher) trat der Neoliberalismus einen umfassenden Siegeszug an. Seine kulturelle Deutungshoheit führte zum weitläufigen Abhandenkommens eines Begriffes von Gesellschaft, als etwas von der reinen Summe der Individuen verschiedenes. Eben dieses Fehlen eines Begriffes von Gesellschaft bildet den weltanschaulichen Hintergrund, vor dem sich linke wie rechte Moralismen entwickeln.

Der linke Neomoralismus schlägt sich auf vielfältige Weise nieder. Da sind zum einen Politgruppenplena, in denen darum gerungen wird, die subjektive Schwere individueller Beschädigungen von der Gemeinschaft anerkannt zu bekommen, um diese gleichsam zu objektivieren. Zum anderen politische Zentren die ihre primäre Aufgabe darin sehen, sich vom unmoralischen Verhalten der Mehrheitsgesellschaft abzuschotten und folgerichtig zu Stasi-Liverollenspielen regredieren; und nicht zu vergessen ist der ganze publizistische Apparat derjenigen, die Rassismus, Ausgrenzung und Sexismus immer da zu erkennen meinen, wo Kulturwaren und Modetrends von Menschen konsumiert werden, die nicht zur vorgesehenen Zielgruppe gehören.

Links am Neomoralismus ist, dass er sich vermeintlich gegen Herrschaft und Ausbeutung richtet. Inspiriert vom Poststrukturalismus versucht er dies zu erreichen, indem er die Marginalisierten und Unsichtbaren der Gesellschaft ins Licht zerrt. Moralistisch ist er, darin gleicht er den klassisch rechten Moralismen, da er keinen Begriff von Gesellschaft und folgerichtig auch keinen von Politik hat. In seinem Blick steht immer die Einzelne und die Frage, ob ihr Verhalten den, von der Moral gesetzten, Verhaltensregeln entspricht. Da er keine Vermittlung kennt, stellt jeder Verstoß für sich immer gleich das ganze Projekt infrage und muss entsprechend geahndet werden.

Der Bezug von Anarchistinnen auf diesen Neomoralismus ist vielfältig. Auf der einen Seite Aktivistinnen, die Herrschaftsverhältnisse als Folge individuellen moralischen Versagens verstehen, die es also als Aufgabe des Anarchismus begreifen die Individuen zur Freiheit zu disziplinieren. Auf der anderen Seite stehen Punkergrüppchen, die mit dem Gestus der Revolte gegen jede Art von Vorschrift auch noch die allerletzten Chauvinisten mit durchziehen.

Lange Zeit schien das Vokabular zu fehlen, um den Neomoralismus und seine Auswirkungen auf um Emanzipation bemühte Gemeinschaften einer Kritik zu unterziehen. In letzter Zeit sind allerdings einige Publikationen erschienen die sich dieser Thematik angenommen haben, wie zum Beispiel das Buch Beißreflexe. Diese blieben aber allzu oft auf der Ebene von Erlebnisberichten und wo sie sich an einer Kritik versuchten, lag der Fokus auf Vermutungen über Psychopathologien.

Was bisher fehlt, ist eine Kritik der Inhalte des neomoralistischen Begriffssystems. Folgende Ansatzpunkte, und damit Vorschläge für mögliche Artikelthemen, kommen uns dabei in den Sinn.

Als erstes sticht der beliebige Umgang mit Theorie ins Auge. Das foucaultsche Diktum vom Werkzeugkasten beherzigend, werden linke Theorien darauf durchforstet, ob sie diskriminierende -ismen entlarven. Diese werden dann aus ihrem theoretischen Kontext gerissen und lose nebeneinandergestellt. Die jeden Zusammenhang entbehrenden Listen von unerwünschten -ismen kennt jede, die gelegentlich in linken Veranstaltungsorten verkehrt. Dass die Theorietraditionen, aus denen sich beispielsweise die Begrifflichkeiten queerer Kritik entwickelt haben, schwerlich mit den Grundlagen einer Kritik des Antisemitismus zusammengehen, wird dabei geflissentlich unterschlagen. Wichtiger scheint es zu sein, neue -ismen dem Katalog hinzufügen zu können, da den Modus ihrer Anwendung im Zweifelsfall ohnehin der Moralismus diktiert – sie also gar nicht mehr auf den Begriff gebracht werden müssen.

In Abwesenheit eines Begriffes von Gesellschaft werden konkrete Räume umso wichtiger, gedacht wahlweise als Freiräume oder als Schutzräume. Man orientiert sich an der Frage, wie gesellschaftliche Verhältnisse aus diesen Räumen ausgesperrt werden können. Dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist, ist evident. Nichtsdestoweniger wird auf diesem Wege die tatsächlich mögliche politische Arbeit in linken Zentren regelmäßig torpediert.

Durch die projektive Vorstellung einer befreiten Gesellschaft im Kleinen, die sich in bestimmten Räumen realisieren könnte, wird der Neomoralismus zum Ticket. Wer seine Lehren verinnerlicht und sein Verhalten anpasst, darf teilhaben. Diese Teilhabe ist allerdings stets prekär. Denn wer gewogen und für zu leicht befunden wird, dem droht der Ausschluss. Die Art und Weise wie diese Verurteilungen vorgenommen werden, haben aber oft sehr viel mit dem sozialen Kapital der Beschuldigten zu tun, und sehr wenig damit tatsächlich Räume zu schaffen in denen emanzipatorisches Handeln möglich wird.

Dabei integriert der Neomoralismus durchaus Inhalte des klassischen Moralismus; konkrete individuelle Körper, insbesondere weibliche sind ihm grundsätzlich verdächtig – sie werden als diffus bedrohlich und schuldbelastet wahrgenommen, dementsprechend reglementiert, und die Bezugnahme auf sie streng sanktioniert. Gegenstand einer weiteren feministischen Kritik könnte die Frage sein, wie sich im Neomoralismus die Grundpfeiler patriarchaler Strukturen reproduzieren.

Einen weiteren Ansatzpunkt stellt das paradoxe neomoralistische Verhältnis zur Identität dar. In der Praxis ist diese offensichtlich völlig beliebig. Das ist erst einmal gut, denn die Freiheit sich selbst zu entwerfen ist ein Ziel emanzipatorischer Politik. Zugleich wird sie aber als Absolut gesetzt, als unhinterfragbare letzte Wahrheit über das jeweilige Individuum. Das geht so weit, dass wer bestimmte identitätsstiftende Theorien hinterfragt, den Vorwurf erntet ihre Anhängerinnen in den Selbstmord zu treiben und somit auch physisch zu Vernichten.

An diese Identitätsparadoxie schließt sich eine Verschiebung des Diskriminierungsbegriffes an. Gemeinhin könnte man annehmen, dass Diskriminierung dort stattfindet, wo jemand aus der Gemeinschaft zu Transzendenz fähiger menschlicher Wesen ausgeschlossen, und auf die eine oder andere soziokulturell aufgeladene physische oder psychische Eigenschaft reduziert wird. Im Neomoralismus findet eine subtile Verschiebung des Diskriminierungsbegriffes statt, nach der diese dort vorliegt, wo die absolute und zugleich beliebige Identität nicht als Absolutum akzeptiert wird. Eine kritische Bestandsaufnahme könnte der Frage gelten, inwieweit dieser Diskriminierungsbegriff für linke Diskurse noch Relevanz haben kann.

Abseits der begrifflichen Untersuchung lohnt sich auch ein Blick auf die neomoralistische Praxis. Denn diese scheitert konsequent daran, die von ihr angestrebten Zustände zu verwirklichen. Es drängt sich die Frage auf, ob das Verhältnis von Moral und Bigotterie, das für konservative Moralismen hinreichend dokumentiert ist, nicht auch dem Neomoralismus zu Grunde liegt.

Und um auch positive Elemente mit einzubeziehen, könnte die Frage untersucht werden, welche Ethik für um Emanzipation bemühte Gemeinschaften tatsächlich hilfreich ist, und ob sich nicht im Anarchosyndikalismus Grundlagen dafür entdecken lassen.

In der zweiten Ausgabe von "Tsveyfl – Dissensorientierte Zeitschrift" wollen wir uns daranmachen, die Eigenschaften des Neomoralismus näher zu bestimmen und sein begriffliches Verhältnis zum Anarchismus zu untersuchen. Jede, die sich vorstellen kann zu einem der skizzierten Themenfelder, oder zu einer vom Thema inspirierten Analyse, deren Perspektive in diesem Call nicht aufgeführt ist, einen Artikel zu verfassen, ist herzlich eingeladen sich an der Debatte zu beteiligen.

Abstracts (max. 1 Seite) werden bitte bis zum 15.01.2018 an tsveyfl@gmail.com geschickt. Namen und Kontaktmöglichkeit aller Autorinnen, sowie Eckdaten zu diesen sind beizufügen.